Kassel Marathon
10.06.2007



Text und alle Fotos von Mirko Leffler (email: Photo@photo-perfect.de)

MirkoES IST SO GEWESEN. NUR NICHT GENAUSO. Farbenfroh grüßt das Plakat von der Litfaßsäule. Großbuchstaben neben einem fragenden Gesicht. Werbung für das Staatstheater. Ist das schon Kunst? Bestimmt. Denn ich verstehe den Satz nicht. Aber es gibt Schlimmeres! Denn wir sind im documenta-Zentrum. Und da ist eben alles anders. An diesem Sonntag, dem 10.Juni 2007. Fünf Tage vor Eröffnung der 12.Weltkunstschau lockt eine spannungsvolle Premiere. Der E.ON Mitte Kassel Marathon! Es ist kurz vor 8.30 Uhr. Vor dem Countdown öffnet sich der Himmel. Gefühlvoll landet ein Fallschirmspringer vor dem ersten Startblock. Sogleich schweben unzählige rote Luftballons der Sonne entgegen. Alle klatschen. Wir auch. Das Fieber hat uns erfasst! Die letzte kameradschaftliche Umarmung. Viel Erfolg! Und schon werden meine Gefährten Christian Marx und Lars Unbehaun von der Menge verschluckt. Irgendwo weit vor mir. Lars läuft mit einem Handicap. Leichte Brustprellung. "Ich darf nur nicht lachen", sagt er. Lachend. Dass uns dieses bald vergehen soll, wissen wir noch nicht. Einsam bleibe ich zurück. Ganz alleine mit Hundertschaften von Individualisten, die sich um die erwählten Zugläufer scharren.

Um die Bestzeitmaximierung geht es heute. 3:45:00 heißt das Ziel. Für Christian und Lars. Bei der prophezeiten Wärme? Nichts für mich. Darum muss ich hier bleiben. 4:00 steht auf den gelben Luftballons, die am Hemd meines Vorläufers festgeknotet sind. Rechts neben mir trippelt eine Dame mit fortgeschrittener Reife. "Legenden sterben nicht im Bett" lese ich auf ihrem Basecap. Will sie heute etwa ernst machen? Prompt muss ich an die zwei Kollegen vom diesjährigen Karstadt Ruhr-Marathon denken. Ob deren himmlischer Zieleinlauf auch so angekündigt wurde? Warm genug ist es ja - schon jetzt. Los geht`s! Drei Minuten sind es bis zur Startlinie. Meiner Natur widerstrebend habe ich mir soeben ein Schweigegelübde auferlegt. Keine Kraft verschenken! Stattdessen lausche ich lieber den Kommentaren meines Zugläufers. Als sein Schatten. Der erste Wasserpunkt wird von ihm jedoch einfach ignoriert. Ich bleibe dran. Zwei Runden und knapp 200 Anstiegshöhenmeter? Null Problem! Kilometer 5. Der Puls ist zu hoch. Fast 90 Prozent zeigt der "Tacho" an. Mein Herz arbeitet wie ein deutscher Hochleistungsmotor. Nach Ablauf der Garantie. Beißen! Nach 55 Gesamtminuten sind wir bei Kilometer 10.

Mirko, Lars, Christian (vlnr)Noch ist alles möglich! Cheerleader, Trommler und jubilierende Zuschauer fliegen vorbei. Tut mir leid, keine Zeit! Wortlos und schmallippig eile ich davon. Kommt nun der Hammer? Ein riesiges Fachmarktschild kündigt ihn an. Die Erde brennt. Mir ist heiß. Ich werde langsamer und lasse meinen Tempomacher ziehen. Seine Ballons entschwinden am Horizont. Lebe wohl! Wieso stand auf deinem Shirt eigentlich auch "Bremsläufer", wenn du nie wartest? Langsam befürchte ich, dass es nicht mehr um die Bestzeit geht, sondern um`s Überleben. Sofort höre ich ein Läuten. Immer lauter. Sind das Totenglocken? Vom Friedhof? Unerwartet entdecke ich sie: die beiden Türme der St. Martinskirche. Standhaft trotzen sie den mörderischen Temperaturen. Beinahe mitleidig blicken sie auf mich herab. Sofort ist mir, als schleppe ich mich zur eigenen Beerdigung. Laufen!

Bei Kilometer 19 liegt eine junge Frau. Wie Rotkäppchen. Auf einer Decke, neben dem Steinpflaster, hat sie es sich mit Kaffee und Kuchen gemütlich eingerichtet. Fernsehen in neuer Dimension. Genussvoll liegt sie in der ersten Reihe. Wehmütig hechele ich mit den anderen Gladiatoren vorbei. Und schaue ein wenig grimmig. So wie Jakob und Wilhelm vom letzten 1000 DM-Schein. Auch die Gebrüder haben ja viel Zeit in Kassel verbracht. Ich möchte dennoch nicht so lange bleiben. Schaue zur Uhr. Horche in mich hinein. Laufe ich mir gerade einen mentalen Wolf? Stimmen mahnen. Aus meinem Kopf. "Es ist zu warm. Unter 4 Stunden? Vergiss es! Wozu dann weitermachen? Nach der Runde hörst du auf. In 3 Kilometern! Denk` an deinen rechten Fuß."Leffler`s geben niemals auf!" habe ich meiner 11jährigen Tochter vor ein paar Tagen überzeugend mit auf den Schulweg gegeben. Und nun?

Zugläufer - Ballons vor dem Marathonstart

Noch wenige Meter. Dann lauern meine Liebsten. Rechtzeitig werden sie mich stoppen. Festhalten. Betteln: "Du kannst so auf keinen Fall weitermachen!" Gerne werde ich ihnen den Gefallen tun. Ich bin ja kein Unmensch! Kilometer 21,1. Halbmarathon bei 2:00:44. "Christian ist schon seit 20 Minuten durch. Lars kam etwas später. Wie geht`s dir?" Schnell greife ich auf exkrementös optimierten Wortschatz zurück. Warte. Na? Keine Reaktion. Nichts! Hm. Dann laufe ich eben weiter. Schwerfällig. Kilometer 22. Ein paar Bäume auf einer saftigen Wiese sehen mir zu. Sofortiges Nierendrücken. Im Härtefall würde ich bestimmt noch eine Stunde durchhalten und das Körperwasser irgendwie wegtranspirieren. Aber jetzt? "Ist die Zeit erst uriniert…" sage ich mir und mache Pause.

Bei Kilometer 25 habe ich meinen Rhythmus endlich gefunden. Nebst Wohlfühlpuls. Wo warst du nur die ganze Zeit? Seltsam. Sind wir denn hier vorhin wirklich vorbeigekommen? Ich winke den Zuschauern. Freue mich über ausgestreckte Kinderhände. Musikbands. Bedanke mich bei den eifrigen Helfern. Bemerke Klapptische vor Neubaublöcken. Das sind private Verpflegungsstützpunkte. Unglaublich! Mich saugt die Stimmung auf. Wie der Schwamm, der mir momentan fehlt. Bei über 30 Grad. Ohne Schatten. Doch Erlösung naht. An den Versorgungsstellen schütte ich mir erstmals Quellwasser über das Kopftuch. Bleibe lange unter installierten Straßenduschen stehen. Herrlich! Gleich werde ich mein glühendes Haupt in einer großen Wanne abkühlen. Hinein! Doch mein Geruchssinn lässt mich erstarren. Das ist eine Mülltonne! Ups. Noch mal Glück gehabt! Plötzlich fühle ich mich wie Timm Thaler. Am Ende seiner Geschichte. Ich habe tatsächlich mein Lachen wieder gefunden! Selbst der harte Asphalt kann mich nicht mehr aufhalten. Auch wenn er derzeit - nach 30 Kilometern - erbarmungslos an meine Hüfte klopft. Immer öfter höre ich einen Namen. Schaue mich um. Es ist der, der unter meiner Startnummer steht! "Du schaffst es, Mirko. Du siehst gut aus! Mirko, weiter so!" Begeisterte Passanten reichen eigene Getränke. In weiter Ferne thront der verkupferte Herkules erhaben über der Wilhelmshöhe. Dennoch sind die Menschen heute das wahre Kunstwerk dieser Stadt. Ich weiß jetzt, dass ich ankommen werde. Mit diesem Publikum! Und siegen. Über mich selbst. Ob es Christian und Lars schon geschafft haben? Warten sie auf mich? Dass ich einem von den Beiden gerade ganz nahe bin, ahne ich nicht. Der Trubel verstummt. An einer Kreuzung stoppt der Läuferpulk. Halt! Zwei Rettungswagen rasen dahin. Werden hier etwa Kollegen abtransportiert? Opfer der Hitzeschlacht?

Weiter zu Kilometer 41. "Gleich kommt die Tribüne!" ruft ein Passant. Augenblicklich schalten meine Beine den Turbo ein. Was passiert mit mir? Bevor mein Geist richtig folgen kann, jage ich ungebremst über den roten Teppich. Fertig! In 4:23:47. "Wenigstens war der lange Anlauf nicht umsonst!" versuche ich meine Mitarbeiter zu motivieren. Doch die Oberschenkel streiken. Keine Überstunden! Überrascht muss ich der Finisher-Medaille entgegen humpeln, um sogleich in den Umarmungen meiner Frauen zu versinken. Joy ruft: "Papa, ich bin stolz auf dich!" Ich schlucke. Dafür hat sich das Durchhalten gelohnt! Jetzt kann mir selbst ein arktischer Schauer nichts mehr anhaben. Zur Belohnung ist das Wasser unter der Hallenbrause tatsächlich eiskalt. Ob der Marathon-Hauptsponsor die eigene Stromrechnung nicht bezahlt hat? Egal! Bald haben wir Christian gefunden. Er hat es wahr gemacht: 3:49:34 lautet die neue persönliche Rekordzeit. Glückwunsch! Doch wo bleibt Lars? Sein Kleiderbeutel liegt auch nach zwei weiteren Stunden unberührt in der Messehalle.

Es muss etwas passiert sein. Schock! Der Rettungsdienst bestätigt unseren bösen Verdacht. Lars ist im DRK-Krankenhaus. Als einer von 40 Notfällen bei über 300 Tageseinsätzen. Besteht Lebensgefahr? Nach bangen Minuten erreiche ich ihn. Telefonisch. Lars gibt Entwarnung. Schuld waren zu geringe Getränkepausen. Bei der Hitze! Vermutete zwei Kilometer vor dem Ziel hat sie ihn umgehauen. Immerhin mit Bestzeit. Trotzdem einfach so. Ist etwas gebrochen? Ein Krankenbesuch beruhigt uns. Keine sichtbaren Verletzungen! Sein Körper braucht jetzt Ruhe - und natürlich einige Tests. Denn auch Beamte sind gerne gesehen. Aber übermorgen darf Lars nach Hause. Alles wird wieder gut! Wir verabschieden uns von unserem Mitstreiter und der Abenteuerstadt. Erst auf der Heimfahrt empfange ich klare Gedanken. Schaue zurück. Das war er also. Der bislang schwerste Marathon. Der Emotionalste. Mit der ersten Runde. Und der Zweiten. Gleicher Ort. Gleiche Strecke. Gleiches Publikum. Nur - ganz anders. Und endlich verstehe ich. "ES IST SO GEWESEN. NUR NICHT GENAUSO."

 
 

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